Ist eine Medea ohne Kindermord überhaupt denkbar? Medea-Morphosen bei Euripides und Christa Wolf. Oder: Freispruch für Euripides. Amaltea, Journal of Myth Criticism. 2010;(2/ 2010):91-103.
AbstractZiel der vorliegenden Studie ist, die Rolle und die Wichtigkeit des Kindermordmythologems imRahmen des Medea-Mythos zu diskutieren. Dabei werden zwei der wichtigsten Bearbeitungen desMythos untersucht: Euripides’ Tragödie und Christa Wolfs Roman (1996). In einem ersten Schrittwird versucht, die Erfindung des Kindermordes von Seiten des Euripides von einem neuenBlickwinkel zu beleuchten. Im Gegensatz zur Annahme der überwiegenden Mehrheit der Forschergeht diese Studie davon aus, dass Euripides’ Medea nicht bloß ein bürgerliches Ehedrama, sonderneine politische und soziale Skizze des Mikrokosmos der Polis ist. In einer Art „Flaschenpost“ ist esdem großen Tragiker gelungen, die Bedürfnisse der Unterdrückten herauszustreichen und eine neuePerspektive für das weibliche Element zu eröffnen. Während jedoch in der männlichen Überlieferungvon Euripides bis von Trier das Unterdrückte als Grausamkeit ans Licht kommt, schlägt Wolf einanderes Modell von Weiblichkeit vor. Zu diesem Zweck braucht ihre Protagonistin den Kindermordnicht mehr. Der Mythos ist kein Kontext, sondern ein Rahmen. Demzufolge gehören alle Fassungenzum Mythos. In einer Zeit, die durch Gewalt und Angst gekennzeichnet ist, wirft Wolf Licht auf dieUrsprünge von Gewalt, indem sie beim Erzählen der Geschichte einer Gestalt, die sowohl Männern alsauch Frauen schlechthin Angst macht, andere Schwerpunkte setzt.