Abstract:
Auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse der Identitäts- und Erinnerungsforschung soll in dieser Studie die Rolle von Erinnerung und Identität im dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards am Beispiel des Stücks Vor dem Ruhestand diskutiert werden. In Vor dem Ruhestand tritt Bernhard in einen provokanten Dialog mit den Erinnerungen seines Publikums. Er untersucht die deutsche Erinnerungskultur und entdeckt das Fortbestehen des nationalsozialistischen Gedankenguts in der Bundesrepublik Deutschland. Auf groteske oder tragikomische Weise thematisiert das Stück die fehlende Vergangenheitsbewältigung und die Amnesie großer Teile der Bevölkerung sowie die identitätsstiftende Rolle von verzerrten und selektiven Bildern der Vergangenheit, die von Generation zu Generation transportiert werden. Bernhards Auseinandersetzung mit den Erinnerungspathologien der "deutschen Seele" hat einen eminent politischen Tenor, dennoch geht es ihm nicht um eine Veränderung der Gesellschaft, um das Aufzeigen von Alternativen. Es geht ihm um die Wahrheit, um die Aufdeckung der Wahrheit als Schock, als Akt des Widerstands und als mögliche Quelle der Hoffnung, aber auch als conditio sine qua non der Vergangenheitsbewältigung und damit der Subjektwerdung des Menschen.
Publisher's Version