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Ziel der vorliegenden Studie ist, die Rolle und die Wichtigkeit des Kindermordmythologems im
Rahmen des Medea-Mythos zu diskutieren. Dabei werden zwei der wichtigsten Bearbeitungen des
Mythos untersucht: Euripides’ Tragödie und Christa Wolfs Roman (1996). In einem ersten Schritt
wird versucht, die Erfindung des Kindermordes von Seiten des Euripides von einem neuen
Blickwinkel zu beleuchten. Im Gegensatz zur Annahme der überwiegenden Mehrheit der Forscher
geht diese Studie davon aus, dass Euripides’ Medea nicht bloß ein bürgerliches Ehedrama, sondern
eine politische und soziale Skizze des Mikrokosmos der Polis ist. In einer Art „Flaschenpost“ ist es
dem großen Tragiker gelungen, die Bedürfnisse der Unterdrückten herauszustreichen und eine neue
Perspektive für das weibliche Element zu eröffnen. Während jedoch in der männlichen Überlieferung
von Euripides bis von Trier das Unterdrückte als Grausamkeit ans Licht kommt, schlägt Wolf ein
anderes Modell von Weiblichkeit vor. Zu diesem Zweck braucht ihre Protagonistin den Kindermord
nicht mehr. Der Mythos ist kein Kontext, sondern ein Rahmen. Demzufolge gehören alle Fassungen
zum Mythos. In einer Zeit, die durch Gewalt und Angst gekennzeichnet ist, wirft Wolf Licht auf die
Ursprünge von Gewalt, indem sie beim Erzählen der Geschichte einer Gestalt, die sowohl Männern als
auch Frauen schlechthin Angst macht, andere Schwerpunkte setzt.